Weder blind, noch Schlange

„Woran unterscheidet man eine Blindschleiche von einer Schlange?“ – die Frage stellte sich im Herbst bei der Begegnung mit der Blindschleiche auf dem Foto. Tatsächlich musste ich kurz überlegen, woran ich auf den ersten Blick eine Blindschleiche erkenne. Klar, der Körperbau ähnelt dem einer Schlange, sogar so sehr, dass sie einen irreführenden wissenschaftlichen Namen bekommen hat. Anguis fragilis bedeutet „zerbrechliche Schlange“. Aber Blindschleichen sind keine Schlangen. In ihrer Tierfamilie, den Schleichen, gibt es Arten mit Beinen, ohne Beine und mit verkümmerten Beinstummeln. „Zerbrechlich“ passt als Bezeichnung ganz gut, weil sie ähnlich wie die Eidechsen bei Gefahr ihren Schwanz abwerfen können – allerdings nur einmal. Das unterscheidet sie schon einmal von den Schlangen, taugt allerdings als Unterscheidungsmerkmal „auf den ersten Blick“ eher nicht.

Auch die anderen Unterschiede lassen sich im Freiland gerade auf Entfernung nicht unbedingt gleich erkennen. Anders als Schlangen haben Blindschleichen bewegliche Augenlider, die sie schließen können, dafür aber keinen Spalt in der Oberlippe. Deswegen müssen sie zum Züngeln ihr Maul leicht öffnen. Mit einem Röntgenblick könnte man vielleicht auch erkennen, dass ihre Schuppen mit Knochenplättchen unterlegt sind und sie Restchen von Schulter- und Hüftknochen besitzen als Überbleibsel ihrer vierbeinigen Vorfahren. Auch alles keine „Auf den ersten Blick“-Kriterien.

Trotzdem gibt es ein paar Sachen, an denen ich meistens gleich erkenne, dass sich auf dem Weg eine Blindschleiche sonnt und keine Schlange. Ganz typisch finde ich bei Blindschleichen die Kopfpartie. Während bei Schlangen der Kopf etwas dicker ist als der „Hals“ bzw. der Anfang vom Rest der Schlange, geht bei Blindschleichen die Schnauze irgendwie direkt in den Körper über. Damit wirken sie irgendwie niedlich rundlich. Auch ihr Schlängeln wirkt etwas steifer und unbeholfener als bei Schlangen. Das liegt an der Verstärkung ihrer Schuppen durch die Knochenplättchen. Auch ihr Färbung und vor allem der Glanz ihrer Schuppen ist anders als bei unseren heimischen Schlangen, die fast alle zumindest im Kopfbereich eine Musterung aufweisen. Ihren glänzenden Schuppen haben sie auch ihren Namen zu verdanken. Blindschleiche hat nämlich wohl nicht mit „blind“ zu tun. Ihr Althochdeutscher Name plintslîcho bedeutet so viel wie „blendender/blinkender Schleicher“ – ähnlich wie in der Mineralogie „Blende“ bestimmte glänzende Mineralien bezeichnet.

Typisch Blindschleiche: Bleibt auf dem Weg in der Sonne liegen, wenn sich Wanderer nähern

Und vor allem ihre Verhaltensweise, dass sie sich gerne auf Wege in die Sonne legt und nicht sofort die Flucht ergreift, wenn sich ein Fußgänger nähert, scheint mir recht Blindschleichen-typisch. Die Schlangen, bei denen ich das beobachtet habe, waren entweder tot oder ihnen war einer über den Schwanz gefahren. Alle gesunden, munteren Schlangen, die mir bisher begegnet sind, haben Deckung gesucht, sobald sie Schritte auf dem Weg spürten. Wenn ich Blindschleichen auf einem Weg entdecke, die ruhig sitzen bleiben, dann versuche ich sie immer davon wegzuscheuchen. Leichtes Anstupsen genügt normal. Über den Weg tragen ist nicht die beste Idee, weil sie dabei ersten ihren Schwanz abwerfen können, wenn sie ihn noch haben, und sich zweitens bisweilen durch Kot- und Urinabgabe wehren (letzteres ist mir schon passiert). Bei den Verkehrsopfern unter den Blindschleichen geht nämlich der Großteil auf das Konto von Radfahrern. Und es soll sogar noch Menschen geben, die Blindschleichen aus Angst oder Ekel erschlagen.

… und lässt sich die Kamera seelenruhig vor die Nase halten.
Hier ist es anders als es aussieht: da ist nicht etwa jemand achtlos oder absichtlich auf ein wehrloses Reptil getreten, die Blindschleiche ist unter den Wanderschuh gekrochen…
… und auf der anderen Seite wieder heraus.

Dabei ist unsere häufigste Echsenart in Deutschland eigentlich sehr nützlich. Zumindest alle Gärtner und Landwirte sollten sich über diese heimliche Helferin freuen, da sie am liebsten Nacktschnecken und Raupen frisst, allerdings auch Regenwürmer. Obwohl sie im Vergleich zu unseren anderen Reptilienarten recht häufig ist und fast flächendeckend vorkommt, wissen selbst die Wissenschaftler nicht übermäßig viel über sie. Das liegt vor allem einfach an ihrer heimlichen Lebensweise. Trotzdem begegnet man ihnen doch immer wieder, vor allem auch im Frühling, wenn sie ihre Winterquartiere verlassen. Zu dieser Zeit konnte ich auch einmal eine ganz besondere Beobachtung machen, als ich einen kurzen Einblick in ihr Liebesleben bekam.

Blindschleichen beim verliebten Tête-à-tête

Wenn ein Männchen seine Auserwählte gefunden hat (oder eigentlich eher umgekehrt, da bei den Blindschleichen meistens Männerüberschuss herrscht und die Herren ihre Herzensdame zum Teil erst durch Schaukämpfe von sich überzeugen müssen), dann hängt es sich ganz gerne ans Schwanzende des Weibchen. So kriechen die beiden dann oft erst eine Weile durch die Gegend, bevor es zur Paarung kommt. So einen Schleichen-Doppelpack habe ich mal auf einer alten Streuobstwiese bei uns im Ort entdeckt. Eine Weile lang konnte ich sie ganz vorsichtig verfolgen – die beiden schienen auch etwas abgelenkt bzw. mit sich beschäftigt -, bis sie schließlich im Gestrüpp verschwunden waren.

Also, wenn ihr etwas schlangenartiges draußen beim Spaziergang entdeckt, schaut ruhig ohne Angst genauer hin. Meistens ist es eine völlig harmlose Blindschleiche, bisweilen eine kaum gefährlichere Ringelnatter (unsere häufigste Schlange) und nur mit ganz viel Glück eine unserer anderen Schlangenarten. Und egal, wer es auch sein sollte, schnappt euch am besten erst Kamera oder Handy, um ein Foto zu machen, und dann ein Stöckchen, um sie in Sicherheit zu scheuchen (falls sie auf einem Weg oder einer Straße liegt). Eine spannende Begegnung ist es in jedem Fall.

2 Kommentare zu “Weder blind, noch Schlange

  1. 9. Januar 2020 um 20:30

    Oh wie schön und du hast sogar eine „goldene “ gefunden. Damals auf dem elterlichen Grundstück gab es sehr viele Blindschleichen sehr viele graue und einige goldene , die waren für mich als Kind die königliche Familie.
    Jetzt sehe ich pro Jahr 1 lebendige und leider 2-3 tote Schleichen. Das ist sehr sehr schade.

    Toller Bericht hat mich an meine Kindheit erinnert.
    Gruß Claudia

    • mirjam
      9. Januar 2020 um 20:46

      Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Die königliche Blindschleichenfamilie – wie süß ist das denn! Dann muss bei uns sowas wie das Versaille der Blindschleichen sein, denn die Farbvariante wie auf dem Foto ist mir die vertrauteste. Es soll ja sogar welche geben, die an den Flanken bläuliche Schuppen haben. Die habe ich bisher aber erst auf Fotos gesehen. Dass man Blindschleichen leider oft tot sieht, kann ich auch nur bestätigen. Wobei das bei uns mit Schlingnattern noch krasser ist. Die habe ich bisher nur tot am Radweg gesehen. Das ist echt traurig.

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