„Wissen Sie schon, was es wird?“ war ehrlich gesagt eine der Fragen, über die ich mich in der Schwangerschaft immer wieder hätte aufregen können. Eigentlich hätte ich meistens am liebsten geantwortet: „Hoffentlich ein gesunder, kleiner Mensch!“ Gerade bei Leuten, die ich kaum kenne. Schon irgendwie seltsam, welche Wichtigkeit das auch heute noch zu haben scheint. Genau so seltsam, wie die Tatsache, dass selbst die Babykleidungsabteilungen strikt in Junge und Mädchen geteilt sind – mit identischen Schnitten in unterschiedlichen Farben… Ich glaube, ich hätte mich schon als kleines Mädchen sehr geärgert, dass die Dinopullis offenbar nur für Jungs vorgesehen sind, hätte es damals schon welche gegeben. Denn Paläontologin war im Kindergarten einer meiner ersten Berufswünsche und wie hätte ich mich über Kleidung mit Dinos drauf gefreut!
Tatsächlich hat mich erst die Waldeidechse darauf gebracht, wie ich auf „Wissen Sie schon, was es wird?“ hätte antworten sollen: „Zum Glück bin ich keine Schildkröte und muss mir darüber Gedanken machen, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird!“ Aber was hat die Waldeidechse damit zu tun? Waldeidechse hat von allen lebenden Reptilienarten das größte Verbreitungsgebiet – einmal quer über den ganzen eurasischen Kontinent von Nordspanien bis zur Insel Sachalin in Ostsibirien. Ich kenne sie vor allem aus der Rhön, wo sie schon im frühen Frühling gerne an sonnigen Plätzchen zum Aufwärmen liegt. Dass sie so erfolgreich ist, liegt unter anderem daran, dass die Weibchen ihr Gelege quasi im Mutterleib ausbrüten und die Eidechsenbabys kurz vor oder direkt nach dem Legen schlüpfen. Ovovivpar nennt die Wissenschaft das (vivipar = lebendgebärend, ovipar = eierlegend). Das hat den großen Vorteil, dass die werdende Mutter ihr Gelege immer bei sich hat und es gezielt zum Wärmen in die Sonne bringen kann, damit sich die Kleinen schneller entwickeln können. In kälteren Gegenden eindeutig ein großer Vorteil.
Allerdings hat mich das auf die Frage gebracht, wie das Waldeidechsenweibchen dafür sorgt, dass etwa gleich viele Männchen wie Weibchen rauskommen. Von anderen Reptilienarten wusste ich, dass die Temperatur, bei der die Eier ausgebrütet werden, das Geschlecht der Jungtiere bestimmt (Temperatur-abhängige Geschlechtsdetermination). Deswegen legen Krokodilweibchen ausgefeilte Nisthügel an und Meeresschildkröten kommen zur Eiablage an den Strand ihrer Geburt zurück (im Ozean ist die Temperatur ja recht konstant, sprich schlecht für eine ausgeglichene Geschlechterverteilung). Wie macht das also die Waldeidechsenmama? Die Eier in ihrem Körper haben es ja immer etwa gleich warm. Sorgt sie dafür, dass sie in einem Jahr nur Mädels und im nächsten nur Jungs kriegt? Oder verlässt sie sich darauf, dass ihre Nachbarin es genau umgekehrt macht? Meine Recherche ergab: sie macht es wie wir oder zumindest fast. Jedenfalls muss sie sich keine Sorgen um das Geschlecht ihrer Nachkommen machen, denn Mutter Natur hat dafür gesorgt, dass das von Anfang an genetisch festgelegt ist. Ein bisschen komplizierter zwar als bei uns, denn statt zwei Geschlechts-Chromosomen wie bei uns Menschen (X und Y) gibt es bei Waldeidechsen drei Stück, aber vom Prinzip her ist es das gleiche, nämlich eine genetische Geschlechtsdetermination. Tatsächlich ist bei lebendgebärenden Wesen eine genetische Geschlechtsdetermination eine evolutionsgeschichtliche Notwendigkeit, denn sonst wäre es schwierig mit der Balance der Geschlechter bzw. bei gleichwarmen sogar unmöglich. Und wenn wir Menschen das Geschlecht unserer Nachkommen über Saunagänge oder Eisbäder beeinflussen könnten, wären manche Gesellschaften wohl schon längst ausgestorben. Es war also eine Mutation, die die Vorfahren der Waldeidechse vom Zwang befreit hat, über die Temperatur für ein ausgewogenes Verhältnis an männlichen und weiblichen Jungtieren zu sorgen – ebenso wie bei unseren Vorfahren. Der Schritt vom Eierlegen zur Lebendgeburt hat sich übrigens in über 100 Stammbaumlinien unabhängig voneinander entwickelt, besonders häufig bei Schlangen und Eidechsen, weil ihre Eier eine weiche Eihülle statt einer harten Schale haben und sich so wohl leichter in Mamas Bauch ausbrüten lassen. Wer es ganz genau wissen will, dem kann ich nur diesen spannenden Artikel ans Herz legen: „Evolution lebendgebärender Reptilien: Ein Weg ohne Rückkehr?“
Also, mein Fazit zum „Pink or blue?“-Getue: Was für ein Glück, dass eine unserer Urahninnen zu Dinosaurierzeiten mir die Sorge um diese Entscheidung abgenommen hat! Und Danke, liebe Waldeidechse, dass du mir die Augen geöffnet hast 😉
Liebe Mirjam
Das ist so interessant. Noch nie habe ich über den Eidechsennachwuchs nachgedacht.
Meine Enkelin hat zu ihrem 5. Geburtstag ein T-Shirt von mir bekommen mit dem Aufdruck : zukünftige Paläontologin. Sie ist jetzt 6 Jahre alt und durfte an der Kinderuni teilnehmen, sie kam sehr erbost nach Hause. Eine Professorin hat den Kindern erzählt, dass Jungs blau bevorzugen, Mädchen rosa, Jungs schlauer sind und Mädchen wären fleißiger. Meine Enkelin hat von ihrem Papa verlangt der Professorin eine böse Mail zu senden da die Dame ihr auch nicht zugehört hat.
Ich bin sehr stolz auf meine Enkelin aber du siehst dieses blau/rosa Getue ist wirklich immer noch da.
Liebe Grüße
Claudia
Auf deine Enkelin kannst du ganz zu Recht stolz sein! Ich hoffe, der Papa hat eine sehr böse Email an die Dame geschrieben. Das ist echt unmöglich und vor allem wissenschaftlich völlig unhaltbar. Von berufswegen habe ich mich tatsächlich mit Studien zum Thema beschäftigt. Das traurige Ergebnis ist eher, dass Mädchen und Jungs sich von der Intelligenz her nicht wirklich unterscheiden (im Schnitt), Mädchen sich mit zunehmendem Alter aber vor allem in Mathe & Naturwissenschaften weniger zutrauen, auch wenn sie nicht schlechter in den Fächern sind. Und das liegt eher am Umfeld und den (fehlenden) Vorbildern. Also, mach‘ deiner kleinen Paläontologin ganz viel Mut, dran zu bleiben.
Das ist doch nicht zu glauben! Leider doch…
Da schließe ich mich an: hoffentlich hat die Dame eine dem Anlaß entsprechende Mail erhalten.
Zu der Zuschreibung von Klugheit und Fleiß möchte ich hier gar nichts schreiben, da fehlen mir einfach die Worte.
Und die Zuschreibung von Rot/Rosa zu Mädchen und Blau/Hellblau zu Jungs ist historisch gesehen gar nicht so lange her, davor war es wohl genau umgekehrt: das „aktive“ Rot für die Jungs, das „ruhige“ Blau für Mädchen.
Ich sehe das blau/rosa Getue (wie Du, liebe Claudia, es so richtig nennst) auch in meinem Berufsalltag.
Nichts gegen eine Portion „Pink-Glitzer“ – für jede(n), der mal Lust darauf hat.
Aber es ist schon traurig, wenn ich ein Kinderbuch empfehle und mir dann gesagt wird, daß das nicht passen würde, da „ein Buch für ein Mädchen“ (und das meint dann eher zuckersüße Feen statt gigantische Dinosaurier) gesucht werde.
Das passiert glücklicherweise nicht oft – aber doch öfter, als ich eigentlich gedacht hätte.
Einen lieben Gruß an die junge Paläontologin von mir.
Klasse, daß sie den Mut hat, den Papa um Hilfe zu bitten, damit ihre Stimme gehört wird.
Und ganz wunderbar, daß sie eine Großmutter hat, die ihr so ein T-Shirt schenkt 🙂 !
Hallo Iris
Danke für den netten Kommentar 🙂
Liebe Grüße
Claudia