Eine unverhoffte Begegnung

Eigentlich wollte ich einen unserer seltenen gefiederten Sommergäste beobachten und hatte mir einen Platz ausgesucht, an dem ich mir auch mit Kinderwagen eine halbwegs gute Sichtungschance ausgerechnet hatte. Doch dann kam es wie so oft in der Natur und im Leben: die schönsten Dinge kommen unverhofft. Ich saß an meinem Beobachtungsposten, einer Bank am Waldrand, Fernglas griffbereit, mein Kleiner friedlich schlafend im Kinderwagen. Da fiel mir plötzlich ein tiefes Brummen in der nächsten Eiche auf. Ein mächtiger Hirschkäfer summte um einen Ast herum, aber nicht lange. Blitzschnell flatterte ein Buntspecht herbei und schnappte ihn im Flug aus der Luft. Ein ordentliches Frühstück. Ich war ganz gebannt. In der Krone der Eiche schienen noch mehr Hirschkäfer unterwegs zu sein. Immer mal wieder summte einer hin und her, der Specht hüpfte aufmerksam schauend die großen Äste auf und ab. Er wartete ganz offensichtlich auf den nächsten Leckerbissen. Da schwirrte wieder ein dicker Käfer los, der Specht stieß auf ihn zu, aber der Käfer – nicht dumm – ließ sich einfach ins Gras fallen. Weg war er. Ich bin natürlich gleich an die Stelle gelaufen, wo der Käfer in etwa gelandet sein musste, konnte ihn aber nicht entdecken.

Nachdem mein kleiner Naturforscher aufgewacht war und wir einen kleinen Ausflug in den Wald gemacht hatten, kamen wir wieder an der Stelle vorbei und zu meiner großen Freude krabbelte der Hirschkäfer da gerade aus dem Feld Richtung Weg. Dabei konnte ich ihn filmen.

Meine Hurschkäferschau wurde allerdings jäh von einer Autofahrerin unterbrochen, die mir wild gestikulierend zu verstehen geben wollte, dass ich mit dem Kinderwagen doch bitte sofort ins Gras ausweichen soll, um ihre Durchfahrt nicht zu behindern – auf einem Weg, der nur für Land- und Forstwirtschaft freigegeben ist. Nachdem weder sie noch ihre Hunde auf dem Rücksitz wirkten, als wären sie hier bei der Arbeit, habe ich das mal schulterzuckend ignoriert und sie ausweichen lassen. Das der Hirschkäfer unter dem Kinderwagen Schaden nimmt, wollte ich auf keinen Fall riskieren. Nachdem das Auto vorbei war, ließ ich den großen Käfer auf meine Hand krabbeln, nicht dass gleich der nächste ihn platt fährt. Ich war ganz in seinem Bann. Wie ein Urtier schwenkte er den Kopf mit seinem Geweih, um zu checken wo er da gelandet war. Mein kleiner Naturforscher kriegte sich gar nicht mehr ein vor lauter auf-das-spannende-Tier-Zeigen, so ließ ich ihn den gepanzerten Gesellen kurz „streicheln“. Dann hielt ich die Hand in die Höhe und siehe da: wie ein Marienkäferchen krabbelte er auf meine Fingerspitze und erhob sich in die Luft. Ob das bei einem so großen Käfer auch großes Glück bringt? Ich war jedenfalls ganz hin und weg. Und glücklich, dass er ohne weiteren Spechtangriff die Zweige der Eiche erreichte.

Schade, dass Hirschkäfer inzwischen so selten und gefährdet sind. Aus manchen Gegenden sind sie schon komplett verschwunden. Schuld daran ist wohl vor allem die Intensivierung der Forstwirtschaft. Hirschkäferlarven brauchen morsches, feuchtes Holz, um heranzuwachsen. Und Zeit. Etwa sechs bis acht Jahre verbringen sie damit, Totholz zu nagen, bevor sie sich verpuppen und im nächsten Frühjahr als erwachsener Käfer zu schlüpfen. Die Larven sind so groß und nahrhaft, dass die Römer in der Antike sie als Delikatesse schätzten. Ihre „Geweihe“ wurden gerne als Amulette getragen. Da sie von der Form her an eine Lyra erinnern, gibt es auch eine schöne Sage, wie der Hirschkäfer entstanden sein soll. Wenn ihr mögt, erzähle ich die euch gerne an anderer Stelle. In unseren Breiten wurde der imposante Käfer mit dem Gott Donar in Verbindung gebracht. Daher rührt auch sein lokal gebräuchlicher Name „Donnergugi“. Die Franzosen nennen ihn „Cerf-volant“, also fliegender Hirsch.

Wie auch immer man ihn nennen mag, er bleibt ein auf seine Weise eindrucksvolles Tier. Ich musste bei der Begegnung unwillkürlich an die ausgestorbenen Rieseninsekten des Karbon denken. Wie mag es wohl sein, sich einer Libelle mit 70 cm Flügelspannweite gegenüber zu sehen? Jedenfalls wäre es jammerschade, wenn künftige Generationen keine Hirschkäfer mehr beobachten könnten. Für so eine Käfersafari muss man noch nicht einmal weit fahren, zumindest bei uns.

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