Darwin und das Liebesleben der Schlüsselblumen

Bei dem letzten Rätselbild konnte ich euch auch nicht wieder täuschen. Man muss schon etwas genauer hinschauen, aber Doris und Christine haben natürlich recht: die Primelblüten unterscheiden sich am Stempel. Bei manchen ist er zu sehen, bei anderen nicht. Als erste Vermutung liegt das nahe, was Christine anführt: es könnte doch männliche und weibliche Pflanzen geben. Das ist ja gar nicht so selten, heißt mit Fachbegriff zweihäusig und kommt von der Brennnessel übern den Sanddorn bis zur Weide in vielen verschiedenen Pflanzenfamilien vor. Wenn man den Blüten der Primeln etwas näher zu Leibe rückt, wird man allerdings feststellen, dass auch die scheinbar stempellosen Blüten einen Stempel haben, nur versteckt unteren den Staubblättern unten in der Kronröhre. Umgekehrt haben die Blüten mit einem offensichtlichen Stempel ihre Staubblätter tiefer Richtung Blütengrund (siehe Zeichnung). Davon könnt ihr euch ganz einfach selbst überzeugen, wenn ihr eine Primelblüte opfert und zerpflückt.

So in etwa sehen die beiden Blütenformen der Schlüsselblumen im Querschnitt aus.

Aber wozu das Ganze? Ist es nicht viel einfacher, wenn alle Blüten gleich gebaut sind, wie es bei so vielen anderen Pflanzengattungen der Fall ist? Diese Frage beschäftigte schon den Gründervater der Evolutionstheorie Charles Darwin so sehr, dass er ausführlich darüber schrieb und später sogar feststellte, dass ihm keine andere Erkenntnis habe ihm so viel Freude bereitet wie diese. Primeln sind also einhäusig, d.h. jede Pflanze besitzt männliche Geschlechtsorgane (Staubblätter) und weibliche (Fruchtblätter in Form des Stempels). Was wir hier als „Blume“ bezeichnen, ist eine Zwitterblüte, die männliche und weibliche Blütenanteile enthält. Das hat den Vorteil, dass ein Bestäuber bei einem Blütenbesuch sowohl den weiblichen Anteil bestäuben als auch gleich Pollen (männlichen Anteil) zur nächsten Blüten mitnehmen kann. Aber bei der Sache gibt es auch einen großen Haken: es besteht die Möglichkeit, dass sich die Blüte dabei selbst bestäubt und das birgt die Gefahr der Inzucht. Um dies zu verhindern hat sich die Natur recht unterschiedliche Strategien der geschlechtlichen Vermehrung ausgedacht. Bei uns wie bei den zweihäusigen Pflanzen gibt es zwei komplett getrennte Geschlechter. Bei vielen Nadelbäumen oder auch der Haselnuss findet man zwar männliche und weibliche Blüten an ein und der selben Pflanze, aber die beiden blühen leicht versetzt, so dass es wahrscheinlicher wird, dass die Befruchtung durch den Pollen einer Nachbarpflanze geschieht. Die lieben Primelchen haben eine andere Strategie gewählt, nämlich die Heterostylie (Verschiedengriffligkeit). Bei ein und der selben Art finden sich hier zwei unterschiedliche Blütenformen, die durch ihren Aufbau Fremdbestäubung begünstigen. Also genau das, wie in der Skizze gezeigt. Es gibt kurzgrifflige Blüten mit Staubbeuteln direkt am Blüteneingang und langgrifflige Blüten, bei denen die Pollen unten im Blütenkelch sitzen. Der Nektar ist übrigens immer ganz unten am Blütengrund zu finden. Vielleicht ahnt ihr jetzt schon den Schlüsselblumentrick dabei? Mit ihrem recht tiefen Blütenkelch werden Schlüsselblumen vor allem von langrüsseligen Hummeln und zum Teil auch Schmetterlingen bestäubt. Sammelt eine Hummel zum Beispiel an einer kurzgriffligen Blüte, bekommt die eine Portion Pollen auf die Stirn verpasst. Wenn sie danach zu einer langgriffligen Blüte kommt, sitzt der Blütenstaub also genau an der richtigen Stelle im Hummelpelz, um auf der Narbe des langen Griffels zu gelangen. Umgekehrt bekommt sie hier den Pollen an ihren Rüssel, damit er bei der nächsten kurzgriffligen Blüte an der richtigen Stelle landet. Unter dem Mikroskop betrachtet zeigt sich sogar, das das Ganze noch ausgefeilter ist. Die kurzgriffligen Blüten tragen nämlich grobe Pollenkörnchen, die gut zu der grob stukturierten Oberfläche der langgriffligen Narbe passen, und die langgriffligen Blüten feine Pollenkörnchen, die gut auf der fein strukturierten Narbe der kurzgriffligen Variante haften bleiben. Selbstbestäubung also effizient vermieden, Darwin freut sich. Allerdings bleibt da bis heute noch ein anderes genetisches Rätsel.

Auf der Schlüsselblumenwiese

Um dem auf die Spur zu kommen, hat die Haselmaus einen Ausflug auf eine ihrer liebsten Schlüsselblumenweisen gemacht. Extensiv gepflegter Streuobstbestand in Südhanglage zwischen üppigen Feldgehölzen – hier fühlen sich Schlüsselblumen und ihre Bestäuber wohl. Einer stellte sich auch gleich als Gesellschaft ein, nämlich die Frühlings-Pelzbiene (Anthophora plumipes), die ihr vielleicht noch vom summenden Balkon kennt.

Die liebe Pelzbiene – schnell unterwegs und ein Rüssel lang genug für den Schlüsselblumennektar

Hier saugt sie brav an einer kurzgriffligen Blüte…

… nur um gleich wieder zur nächsten aufzubrechen.

Hier gibt es jede Menge Wiesen-Schlüsselblumen (Primula veris) und natürlich in beiden Blütenvarianten.

Bei den Wiesen-Schlüselblumen sehen die langgriffligen Blüten so aus

… und hier die kurzgriffligen.

Damit die Bestäubung auf so einer Wiese optimal läuft, sollten etwa gleich viele kurz- und langgrifflige Exemplare schön vermischt nebeneinander stehen. Mit ein bisschen Toleranz tun sie das auch auf dieser Wiese. Mit etwa 60 % kurzgriffligen und 40 % langgriffligen Blüten liegen die 339 Schlüsselblumen dort statistisch gesehen sicher ganz gut im Rennen. Mit fiel allerdings auf, dass Pflanzen, die direkt nebeneinander stehen oft dem selben Blütentyp angehören und in einzelnen „Blühinseln“ teilweise eine Variante deutlich überwiegen kann. Aber so flott wie die Pelzbiene unterwegs ist, huscht sie sicher oft genug zwischen verschiedenen hin und her. Kniffliger wird die Verteilung von etwa 1:1 von der Genetik her in einer Population hinzubekommen. Mit dem einfachen dominant-rezessiven Erbgang, wie ihn Gregor Mendel an seinen Erbsen entdeckt hat und wohl die meisten von euch in der Schule lernen durften, funktioniert das schon mal nicht, weil die rezessive Form immer in der Unterzahl ist. Bei uns Säugetieren gibt es diese 1:1-Vererbung über die XX- bzw. XY-Chromosomen für weibliches und männliches Geschlecht. Forscher der Uni Potsdam haben kürzlich herausgefunden, dass es bei Schlüsselblumen ein Gen gibt, dass dazu führt, dass speziell im Griffel ein Enzym gebildet wird, dass dort ein Wachstumshormon abbaut (für die besonders Interessierten hier ein schöner Artikel dazu). Das führt also zu kurzen Griffeln. Das ist schon einmal ein erster Schlüssel zum Trick der Primeln. Allerdings bleibt noch etwas Arbeit für die Wissenschaftler, denn die anderen Gene, die zur Ausbildung der beiden Blütenformen führen, sind bisher noch unbekannt. Auf der Schlüsselblumenwiese ist mir jedenfalls noch etwas anderes aufgefallen. Neben den ganz typischen kurz- und langgriffligen Exemplaren gibt es auch welche, die zwar ihre Staubblätter unten am Blütengrund haben wie bei der langgriffligen Form und bei denen der Griffel auch über diese hinaus ragt, aber doch so kurz ist, dass man ihn erst auf den zweiten Blick in der Kronröhre entdeckt. Ob bei diese Pflanzen einfach etwas weniger von dem Wachstumshormon bilden, die für das Längenwachstum des Griffel verantwortlich sind, als normal? Sowas gibt es ja nicht nur bei Schlüsselblumen 😉

Hier ist er zwar ganz gut zu sehen, aber bei dieser Blüte liegt die Narbe deutlich tiefer in der Kronröhre als bei anderen langgriffligen.

Schlüsselblumenzählen ist übrigens eine sehr meditative Angelegenheit 😉

Bei der ganzen Betrachtung ist mir wieder in den Sinn gekommen, wie seltsam es doch ist, das menschliche Fortpflanzungsverhalten mit Bienchen und Blümchen zu erläutern. Gerade die Blüten, die Bienen gerne besuchen, sind zum Großteil Zwitterblüten und von Wesen, die analog die Rolle der Bestäuber bei den Blütenpflanzen einnehmen, habe ich im Tierreich noch nichts gehört. Ob es wirklich Leute gibt, die es ihren Kindern mit einer so weit hergeholten Metapher erklären? Fest steht, dass das Liebesleben der Pflanzen auf jeden Fall viele spannende Facetten hat und es an bunter Ästhetik nicht fehlen lässt.

Nur weil es so nett zum Thema passt: mein bisheriges Highlight von der neuen Landesgartenschau Würzburg 😉

6 Kommentare zu “Darwin und das Liebesleben der Schlüsselblumen

  1. 29. April 2018 um 17:16

    Hallo liebe Mirjam,
    welch interessanter Beitrag!
    Ich hatte ja recht gespannt auf des Rätsels Lösung gewartet, als meine Schlüsselblümchen begonnen haben zu blühen…
    Wirklich bemerkenswert, welche Phänomene die Natur hervorbringt!

    Bei der Gelegenheit habe ich auch gleich herausgefunden, welches Insekt wie ein Kolibri schwirrend meine Blaukissen besucht.
    Mir war die Frühlings-Pelzbiene vorher noch nicht aufgefallen.

    Also zwei Rätsel auf einmal gelöst 🙂

    Viele liebe Grüße
    Christine

    • mirjam
      30. April 2018 um 10:42

      Zwei Rätsel mit einem Streich gelöst – das freut mich 🙂 Mir ist die Frühlings-Pelzbiene auch erst letztes Jahr aufgefallen, als sie meinen Goldlack regelmäßig besuchte. Vom Flug her dachte ich zuerst, es sei eine Art Fliege. Sehr lustig finde ich auch die Wollschweber (allein der Name!), die jetzt auch gerne an vielen Wiesenblüten unterwegs sind. Es gibt doch immer was zu entdecken.

  2. 30. April 2018 um 19:17

    Hallo liebe Mirjam

    Da muss ich morgen gleich meine Schlüsselblumen untersuchen , so toll erklärt. Ich dachte immer die goldene Schlüsselblume ist die Echte auch Himmelsschlüssel genannt, sie kommt bei uns sehr selten vor . Aber die Waldschlüsselblume (gelbe Farbe) wächst bei uns öfters auf der Wiese und da ging ich von dem Namen Wiesenschlüsselblume aus.
    Schwierig schon wieder was gelernt 🙂
    LG Claudia

    • mirjam
      4. Mai 2018 um 10:22

      Wieder mal ein bisschen Wortverwirrung 😉 Die goldenen Schlüsseblume, wie du sie so treffend nennst, ist die Echte Schlüsselblume (Primula veris). Sie wird aber auch WiesenSchlüsselblume/-primel, Apothekerschlüsselblume/-primel oder Himmelsschlüssel genannt. Wäre doch sonst zu einfach.

  3. 1. Mai 2018 um 12:16

    Wow. Du bist eine echte Forscherin, Mirjam! Das ist ja geballtes Wissen pur. Ich gucke mir Primeln und Schlüsselblumen jetzt mit ganz anderen Augen an.

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